Zwischen Onlinepolice und Beratungsgespräch: Wie verändert die Digitalisierung Versicherungen? „Einerseits verfügt die Versicherungswirtschaft schon seit Jahrzehnten über Erfahrungen mit elektronischer Datenverarbeitung“, sagt Professor Fred Wagner, einer der renommiertesten Kenner der Branche. „Andererseits ist die Branche doch noch ein gutes Stück am Anfang, wenn es um neue Technologien, Big-Data-Ansätze und durchgehende Prozesse geht.“
Professor Wagner, welche Probleme hat die deutsche Versicherungswirtschaft beim Thema Digitalisierung im Vergleich zu anderen Branchen?
Das Geschäftsmodell Versicherung ist nicht so leicht zu digitalisieren wie manches andere, zum Beispiel das von Verlagen oder des Einzelhandels. Versicherungen sind stark von der persönlichen Beratung geprägt, es ist eine Risikoseite zu analysieren und es besteht ein hohes Maß an Regulierung. Das alles ist vergleichsweise schwierig online abzubilden. Heute sind wir noch weit davon entfernt, das komplette Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen zu digitalisieren.
Woran liegt das?
Es gibt natürlich erste Versicherungsunternehmen, die rein elektronisch funktionieren. Generell ist zu erwarten, dass zunehmend einzelne Elemente der Wertschöpfungskette digitalisiert werden. Einerseits verfügt die Versicherungswirtschaft schon seit Jahrzehnten über Erfahrungen mit elektronischer Datenverarbeitung. Andererseits ist die Branche doch noch ein gutes Stück am Anfang, wenn es um neue Technologien, Big-Data-Ansätze und durchgehende Prozesse geht.
Es wird also besonders schwierig, wenn neue an bestehende Systeme angebunden werden sollen?
Natürlich ist das so. Es wird schwierig, wenn Datenbanken überall verteilt sind. Es wird schwierig, wenn die bestehende Software schon ein nennenswertes Alter hat. Schwierig sind auch viele analoge Prozesse, die sich nicht einfach digitalisieren lassen, weil sie vielleicht nicht hochgradig effizient sind. Die Versicherer fangen nicht auf der grünen Wiese an, sondern mit den bestehenden Verhältnissen – und das ist immer schwieriger. Ein Haus zu bauen ist auch leichter als eines zu renovieren.
Welche Rolle spielen die Vertriebspartner – also Außendienstmitarbeiter und Vertreter – bei diesen Renovierungsarbeiten?
Die Versicherer werden ihre Vertriebspartner auf dem Weg in ihre digitale Zukunft begleiten müssen. Das erwarte ich konkret bei den Ausschließlichkeitsvertretern. Bei den Maklern sollte man eigentlich denken, dass sie unabhängiger agieren und von ihren Verbänden und Maklerpools unterstützt werden. Aber auch hier glaube ich, dass mehr Unterstützung hilfreich wäre.
Traditionell verfügen die Vertriebspartner über starke lokale Netzwerke. Sollten nicht gerade sie von Social Media profitieren können?
Die Bedeutung sozialer Netzwerke wird weiter zunehmen. Das sehen Sie ja im täglichen Leben, in dem immer mehr über soziale Netzwerke kommuniziert wird. Sicher können sich auch die heute noch analog agierenden Vertriebspartner vermehrt der sozialen Netzwerke bedienen, um sich mit ihren Kunden zu vernetzen. Am Ende ist es kein großer Unterschied mehr, ob per Facebook oder Telefon direkt beraten wird.
Persönliche Beratung wird in Zukunft also weniger wichtig?
Wenn ich von persönlicher Beratung spreche, meine ich nicht nur das Gespräch im Wohnzimmer oder in der Agentur, das face to face stattfindet. Persönliche Beratung geht auch über Telefon, Chat, Videotelefonie oder Co-Browsing. Wenn ich weiß, wer mein Gegenüber ist, muss ich mich nicht immer physisch mit ihm treffen, um vertraut mit ihm zu sprechen. Die digitalen Möglichkeiten schaffen also auch eine neue persönliche Beratung, derer sich die Vertriebspartner bedienen können und müssen. Und warum soll der Kunde nicht vor dem Chat mit seinem Versicherungsberater ein Erklärvideo abrufen, das ihn schon einmal über die wichtigsten Dinge informiert? Die Welten sind hier nicht schwarz und weiß, sie sind bunt.
Der Vertreter muss also nicht fürchten, durch die Digitalisierung früher oder später seinen Job zu verlieren?
Ich glaube nicht, dass die Vertriebspartner mit ihrer Beratung und Betreuung in absehbarer Zeit durch einen elektronischen Direktvertrieb ersetzt werden. Allerdings müssen sich die Vertriebspartner selbst zunehmend digitalisieren. Und da sind die Unsicherheiten noch groß. Die Leute fragen sich, wie es weitergeht, konkret etwa, welche Medien und welche Techniken eingesetzt werden können? Was die Digitalisierung im Vertrieb angeht, hatte ich bis vor ein oder zwei Jahren noch den Eindruck, dass die Vermittler eher blockten und die Versicherer das Thema antrieben, weil sie selbst die von den Märkten Getriebenen sind. Inzwischen scheint sich das umzukehren: Viele Vertriebspartner scharren mit den Füßen; das sind die Leistungsfähigen, die Zukunftsorientierten, die Potenzialträger. Sie erwarten Unterstützung auf dem Weg zur Digitalisierung ihrer Vertriebswelt. Da müssen die Versicherer besorgt sein, dass sie hin-terherkommen, die Anforderungen zu erfüllen.
Über Ihr Institut und zahlreiche Kongresse stehen Sie im Austausch mit den Versicherungsunternehmen. Welche Fragestellungen hören Sie derzeit besonders häufig?
Zunächst gibt es eine Reihe von großen Themenstellungen und Herausforderungen, die nicht von der Digitalisierung geprägt sind. Da sind ja schon viele Kapazitäten und Management-Attention gebunden. Beispiele sind nach wie vor Solvency II, dort insbesondere die Säulen 2 und 3, also die Prozesse des Risikomanagements und Reportings, die noch nicht abgearbeitet sind. Wir haben außerdem die Pflegereform, die Niedrigzinsphase und die Vermittler-Richtlinie IDD (Insurance Distribution Directive, Anm. d. Red.), die bis 2018 in deutsches Recht übersetzt wird. Dazu kommt jetzt die Digitalisierung, die zunehmend Aufmerksamkeit bekommt und anscheinend zum Fokusprojekt bei fast allen Versicherungsunternehmen geworden ist oder gerade wird.
Mit welcher Priorität wird denn in den Unternehmen an der Digitalisierung gearbeitet?
Die Aufmerksamkeit für Digitalisierung ist inzwischen groß und nimmt weiter zu. Mir scheint das Einfallstor nach wie vor noch in den Vertriebsfragen zu liegen – wie können wir damit umgehen, dass die Kundenbeziehung digitalisiert wird? Wie können wir mit neuen Geschäftsmodellen umgehen, die von Start-ups und Innovatoren ausgehen? Digitalisierung im Vertrieb ist also nach wie vor ein Fokusthema, das weit davon entfernt ist, gelöst zu sein. Hier entwickeln sich natürlich auch erst die Kundenanforderungen. Die Kunden lernen von anderen Geschäftsmodellen und anderen Branchen, die weiter sind. Sie lernen von Google, Amazon oder Zalando, von Electronic Banking, und mit welchem Service und welchen Mehrwertleistungen sie dort bedient werden. Die Kunden haben die Selbstverständlichkeiten kurzer Reaktionszeiten, der Medienbruchfreiheit und individualisierter Angebote, die sie von dort kennen, noch nicht auf die Versicherungen übertragen, werden das aber zunehmend tun.
Meint Digitalisierung also vor allem den Vertrieb?
Nein, es geht bei der Digitalisierung um alle betriebswirtschaftlichen Funktionen und alle Prozesse am Frontend in der Beziehung zum Kunden und zu Dienstleistern, zum Beispiel auch in der Vertragsverwaltung und im Schadenmanagement, und im Backend, um die Automation, die Dunkelverarbeitung und letztlich die Industrialisierung mit deutlichem Effizienzstreben voranzu-treiben. Digitalisierung ist auch ein Thema, das sehr eng mit dem Thema Kollaboration verknüpft ist. Wir werden immer mehr sehen, dass sich das Handeln im eigenen Versicherungsunternehmen an den Kernkompetenzen orientieren muss. Wir sehen zudem, dass Branchengrenzen verschwimmen. Es gibt schon lange Autobauer, die sich zu Finanzdienstleistern entwickelt haben und auch Versicherungen und Finanzierungen anbieten. Umgekehrt gehen erste Versicherer in die Richtung, sich zu Mobilitätsdienstleistern zu entwickeln und damit die Geschäftsmodelle der Autobauer und von Automobilclubs anzugreifen. Bei diesen übergreifenden Geschäftsmodellen werden sich die Versicherer positionieren und für sich klären müssen, welche Rolle sie einnehmen wollen: Lösungsanbieter und Integrator für die Erfüllung von Anforderungen und Wünschen der Kunden in ihren Lebenswelten und/oder Zulieferer von Komponenten? Die Kunden interessieren sich ja nicht für Versicherungsprodukte und sie verstehen auch deren Abgrenzungen nicht. Die Kunden wollen keine Wohngebäudeversicherung, Hausratversicherung und Gewässerschadenhaft-pflichtversicherung. Sie denken in ihren Lebenswelten, in den Themenfeldern Wohnen, Gesundheit, Reisen, Mobilität und Recht. Schon jetzt ist absehbar, dass sich für die Lebenswelten der Kunden Lösungsangebote – von wem auch immer – über die Branchengrenzen hinweg entwickeln. Dabei wird sich auch klären, wer als Lösungsanbieter die Kundenbeziehung »besitzt«, wer gegenüber dem Kunden »im Lead« ist. Und das ist dann der Mobilitätsdienstleister oder der Gesundheitsdienstleister, der im Zweifel digital verknüpft Anbieter für einzelne Komponenten hinzunimmt, Experten mit Kernkompetenzen, für die Schnittstellen zu schaffen sind. In diesem Sinne können Versicherer beides sein: Lösungsanbieter mit der Kundenbeziehung und Zulieferer mit dem Angebot von Kompetenzen in Netzwerken, bei Problemlösungen, die von anderen geführt werden.
Was bedeutet das konkret?
Dass sich jedes einzelne Versicherungsunternehmen strategisch positionieren und sich fragen muss, wofür es in welchem Themengebiet steht und ob es darin die Führungsposition einnehmen und ein Netzwerk bauen kann, das rundum für den Kunden eine Lösung bereithält. Hat er dafür die Ressourcen, die fachliche und technische Kompetenz, die Marke und damit den Kundenzugang oder hat er Teilkompetenzen in bestimmten Feldern, in denen er sich an lebensweltbezogene Lösungen von anderen Anbietern andocken kann und muss? Diese strategischen Fragen muss sich jeder Versicherer stellen. Was kann er? Wofür ist die Marke bekannt? Wofür hat er einen Marktzugang? Wofür verfügt er über die notwendigen Ressourcen?
Ein Blick über die Grenzen des deutschen Marktes hinaus: Welche Entwicklungen in der Versicherungsbranche weltweit machen Ihnen Sorge? Welche nicht?
Wir sehen in vielen Ländern eine große Entwicklungsdynamik. Natürlich sind die USA Vorreiter. Die Digitalisierung scheint aber auch zum Beispiel in Skandinavien weit fortgeschritten zu sein, da lohnt es sich ebenfalls hinzuschauen. Die größten skandinavischen Versicherungskonzerne, wie Skandia, IF und Länsförsakringar, haben ihre Produktwelten schon deutlich verändert. Von dort ist zu hören, dass komplexe Produkte, wie wir sie zum Beispiel mit der Berufsunfähigkeits- oder Krankenversicherung kennen, deutlich rückläufig sind. Die Produkte werden massiv vereinfacht und in selbsterklärende Bausteine zergliedert. Das heißt, das Argument, die Produkte seien zu kompliziert und ließen sich deshalb kaum digitalisieren, greift nicht. Vielleicht wird man es umdrehen müssen. Die Kunden erwarten zunehmend digital unterstützte Beratungs- und Serviceleistungen. Und daran müssen sich die Produktwelten anpassen und einfacher werden. Ein weiteres Thema ist die Generierung von Daten über die Kunden und deren Risiken, um individualisierte Angebote zu schneidern. In den USA ist die Bevölkerung sorgloser und gelassener im Umgang mit Daten. Es bleibt abzuwarten, wie sich das in Deutschland entwickeln wird. Im Moment gibt es diesbezüglich noch große Vorbehalte und auch rechtliche Restriktionen. Wenn es der digitalen Welt aber gelingt, dem Nutzer echte Mehrwerte aufzuzeigen, nicht nur einen günstigeren Tarif, sondern zusätzliche individuell geschätzte Services und Leistungen, dann wird auch eine größere Bereitschaft entstehen, persönliche Informationen und Daten zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen sind die jungen Leute ja auch heute schon im Umgang mit ihren Daten viel gelassener als die etwas Gesetzteren.
Zur Person: Professor Fred Wagner
Der gelernte Bankkaufmann hat 1987 seinen Abschluss als Diplom-Betriebswirt an der Uni Köln gemacht und wurde dort am Seminar für Versicherungslehre promoviert. Habilitation 1997. Heute ist er Inhaber des Lehrstuhls für Versicherungsbetriebslehre der Universität Leipzig und seit der Gründung im Jahr 2000 Vorstand des Instituts für Versicherungswissenschaften e. V. an der Universität Leipzig.
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